Sicherung von Kulturgütern gegen kulturellen Alzheimer

Kulturerbe Digital I British Museum
Kulturerbe Digital I Andres Christoph

Dr. Andreas Christoph

Schutz vor Diebstahl, Zerstörung oder Verfall durch Digitalisierung

Aktuell überall in den Medien, von der Rheinischen Rundschau bis zur FAZ: zwischen 1500 bis 2000 Artefakte sollen von einem Mitarbeiter des British Museum über Jahre aus dem Depot des höchst anerkannten Hauses entwendet worden sein. Auch wenn sich der Schaden für die Sammlung noch nicht genau beziffern lässt, der Reputationsverlust für das Museum ist bereits immens. Der Verlust von Kulturerbe ist ein grundsätzliches Reizthema: Kunstraube oder Vernichtung von Kultur durch Feuer, Krieg oder Naturkatastrophen werden von den Medien in der Regel ausgiebig begleitet und diskutiert. Dabei schwingt immer die Angst mit, dass mit wichtigen Kulturgegenständen oder Landmarks auch immer kollektive Identität verloren geht. Es geht um Verantwortung, denn jeder Generation fällt die Aufgabe zu, wichtige kulturelle Zeugnisse für die nachfolgenden Generationen sicher zu verwahren.

In Deutschland ist der Museumsraub im Grünen Gewölbe in Dresden vor vier Jahren aus diesen Gründen besonders gut im Gedächtnis geblieben. Nach Einschätzung von Experten markierte dieser Einbruch bzw. Raub eine neue Dimension von krimineller Bedrohung für Kunst und Artefakte. Zu Recht wurde nach dem Einbruch im November 2019 der Standard der Sicherungstechnik in Sammlungen, Museen oder Ausstellungen als teilweise unzureichend in Frage gestellt. Hinzu kamen in jüngster Zeit mehrfache Attacken von Klimaschützern auf bedeutende Museumsexponate. In der Kulturszene wird also bereits seit einigen Jahren diskutiert: ist eine Sicherung durch dickeres Panzerglas und bessere elektronische Überwachung nicht zu kurz gedacht?

Jetzt nach diesem beispielslosen Fall im British Museum in London landet nun ein weiterer Aspekt zum Themas Sicherheit in der öffentlichen Debatte: nicht nur in den öffentlichen Ausstellungsräumen, auch in den Depots, Archiven, Werkstätten und Labors sowie beim Transport von Leihgaben müssen Kunstwerke und Artefakte sicher sein. Die Sicherheit unseres Kulturerbes darf nicht aufgrund des Mutes von Wachpersonal, der Vertrauenswürdigkeit von Mitarbeitern und der Widerstandskraft eines Panzerglases entschieden werden. In den Depots und Archiven oder Werkstätten, sollte es zudem nicht von einzelnen Personen abhängig sein, ob die eingelagerten Sammlungen sicher verwahrt sind oder nicht. Das Sammlungsmanagement sollte umfassend sein und nicht nur Exponate, sondern auch Deponate einschließen. Dazu gehört eine digitale Dokumentation einzigartiger Kulturschätze in 2D und 3D. Eine Mammutaufgabe für Museen und Sammlungen.

„Die jüngsten Ereignisse in London, wie schon hierzulande der Raub im Grünen Gewölbe in Dresden vor vier Jahren, lenken den Blick auf die Schwachstellen der Kulturlandschaft. Den bestmöglichen Schutz erlangt man nicht allein durch Sicherung, sondern durch eine konsequente Digitalisierung und Inventarisierung der Bestände“, sagt Dr. Andreas Christoph, Abteilungsleiter für Digitales Kultur- und Sammlungsmanagement an der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, einer Einrichtung der Universität Jena.

Bedeutende Kunstraube in der Geschichte

Kunstraub Boston: Bedeutende Kunstraube gab es immer wieder, aber kaum ein Diebstahl erregte aber so viel internationales Aufsehen wir der so genannte Kunstraub Boston. Im Jahr 1990 wurden 13 Gemälde aus dem Isabella Steward Gardener Museum in Boston gestohlen. Bis dato gilt dieses Ereignis – mit einem Verlust von ca. 500 Mio. USD – als der größte Kunstraub der Geschichte. Der Diebstahl wurde bis heute nicht aufgeklärt. Die leeren Rahmen der Gemälde hängen immer noch in dem Museum als Zeichen des Diebstahls. Verschwunden sind damals ein Ölgemälde von Rembrandt van Rijn (1606-1669) mit dem Titel „Christus im Sturm auf dem See Genezareth“ sowie ein Gemälde von Jan Vermeer (1632-1675) mit dem Titel „Das Konzert“.

Rembrandt

Vermeer

Kunstraub Paris: Ebenfalls spektakulär – wenn auch nicht ganz so kostspielig – war der Kunstraub Paris im Jahre 2010. Dabei brach ein Dieb im Spiderman-Kostüm ins Pariser Museum für moderne Kunst ein und stahl 5 Werke mit einem Gesamtwert von ca. 100 Mio. USD. Auch wenn der Dieb verhaftet werden konnte, sind nicht alle Werke bisher wieder aufgetaucht. Der Täter wurde erst sieben Jahre später – im Jahr 2017 rechtskräftig verurteilt. Gestohlen wurden damals insgesamt fünf Gemälde von bedeutenden Malern wie Picasso, Matisse, Modigliani, Braque und Léger. Das Teuerste unter den gestohlenen Bildern ist das Werk „Le pigeon aux petits pois“ („Die Taube mit grünen Erbsen“) von Pablo Picasso.

Dresdener Juwelendiebstahl im Grünen Gewölbe: Bei Einbruch und Raub am 25. November 2019 wurden Kunstobjekte und 21 Schmuckstücke mit insgesamt 4.300 Diamanten mit einem Versicherungswert von mindestens 113,8 Millionen Euro aus dem Historischen Grünen Gewölbe des Residenzschlosses Dresden entwendet. Die langwierigen Ermittlungen führten erst im Mai 2023 zu einer Verurteilung von fünf Mitgliedern des so genannten Remmo-Clans. Im Zuge der Verhandlungen hatte der Clan bereits im Im Dezember 2022 den Großteil des aus dem Grünen Gewölbe gestohlenen Sachsenschatzes an die Polizei übergeben.

Londoner Depot-Diebstahl: Das British Museum ist über mehrere Jahre von einem Angestellten bestohlen worden. Insgesamt sollen nach aktueller Darstellung bis zu 2000 Objekte fehlen. Das Problem: Das Museum hat keine vollständige Inventarliste und kann keine genaue Zahl nennen. Im Moment arbeiten die Mitarbeiter sowie die Polizei mit Unterstützung von Antiquitätenhändlern daran, möglichst viele der vermissten Objekte wiederzufinden. Es handelt sich um kleine Schmuckstücke aus Halbedelsteinen, Goldschmuck, Goldstücke und Glaskunst aus dem 15. Jahrhundert vor Christus bis zum 19. Jahrhundert nach Christus. Die Sammlungsobjekt waren nicht öffentlich ausgestellt, sondern im Depot verwahrt. Im August 2023 trat der Direktor des British Museum, Hartwig Fischer, zurück. Er übernahm damit die Verantwortung, dass die Verluste nicht früher bemerkt wurden.

Wie kann die Polizei Digitalisate von Kunstobjekten oder Schmuck oder Kulturgütern nutzen, um Diebesgut wiederzubeschaffen?

Online-Datenbanken: Die Polizei kann auf nationale und internationale Online-Datenbanken zugreifen, die Informationen und Bilder von gestohlenen Kunstwerken, Schmuckstücken und Kulturgütern enthalten. Durch den Abgleich von gestohlenen Objekten mit den digitalen Aufzeichnungen können sie möglicherweise Übereinstimmungen identifizieren und den Diebstahl aufdecken.

Bilderkennungs-Technologie: Mit Hilfe fortschrittlicher Bilderkennungs-Tools können digitale Bilder von gestohlenem Diebesgut mit Online-Datenbanken oder öffentlichen Bildarchiven abgeglichen werden. Solche Technologie kann dabei helfen, ähnliche Objekte zu identifizieren, die möglicherweise zum Verkauf angeboten oder auf Auktionsplattformen präsentiert werden. Im Falle der verschwundenen Deponate aus dem British Museum in London, sind einzelne Objekte sogar über Ebay angeboten worden. Mit einer entsprechenden automatisierten Überprüfung auf der Basis von vorliegendem Bildmaterial hätte die Entdeckung nicht dem Zufall überlassen bleiben müssen.

Social-Media-Monitoring: Die Polizei kann soziale Medien und Online-Marktplätze überwachen, um nach verdächtigen Angeboten von gestohlenem Diebesgut zu suchen. Durch den Einsatz von Suchalgorithmen und Stichwortsuche können digitale Spuren verfolgt und Hinweise auf den Verbleib gestohlener Objekte gefunden werden.

Zusammenarbeit mit Experten: Die Polizei kann digitale Bilder und Informationen von gestohlenem Diebesgut mit Experten, Kunsthändlern, Auktionshäusern und Fachleuten der Kunst- und Antiquitätenbranche teilen. Diese Experten können bei der Identifizierung von gestohlenen Objekten behilflich sein, indem sie aufgrund ihrer Fachkenntnisse Merkmale, Stil oder Provenienz analysieren. Auch hier zeigt, das Londoner Beispiel, dass hier noch nicht systematisch genug gearbeitet wird. Dies sind alles geeignete Stellschrauben: einerseits zur Abschreckung vor kriminellem Zugriff und andererseits für bessere Chancen bei der Wiederbeschaffung.

Öffentlichkeitsarbeit: Die Polizei kann digitale Bilder von gestohlenem Diebesgut in der Öffentlichkeit teilen, um Bewusstsein zu schaffen und potenzielle Hinweise von Zeugen zu erhalten. Durch die Verbreitung von Bildern und Informationen über Medienkanäle, soziale Medien oder offizielle Polizeiwebsites können Bürger dazu ermutigt werden, verdächtige Aktivitäten zu melden oder Informationen bereitzustellen, die zur Wiederbeschaffung des Diebesguts führen könnten. Im Falle des Londoner Diebstahls, steht nicht eindeutig fest, welche Objekte genau fehlen. Insofern ist eine systematische Suche mit Hilfe der Öffentlichkeit zurzeit kaum möglich.

Wenn aber die Kunstwerke oder historischen Objekte nicht sichergestellt werden können – oder wie sich bei den hier genannten Beispielen zeigt, die Strafverfolgung über viele Jahre hinzieht, stellt sich die folgende Frage:

Wie kann die 3D-Digitalisierung helfen, verlorene Kulturgüter zu ersetzen?

Digitale Reproduktionen oder Digitalisate spielen eine entscheidende Rolle bei der Ersetzung verlorener Kulturgüter. Indem sie hochauflösende Bilder, 3D-Scans oder detaillierte Dokumentationen erfassen, ermöglichen digitale Technologien die Schaffung präziser virtueller Repliken von verlorenen oder zerstörten Artefakten, historischen Stätten oder Kulturgütern. Hier sind einige Möglichkeiten, wie Digitalisate bei der Ersetzung verlorener Kulturgüter helfen können. Digitalisate und Replikate können außerdem als Doublette eingesetzt werden, damit besonders schützenswerte Kulturgüter sicher verwahrt werden können. Dies ist aber noch keineswegs nicht gängige Praxis.

Virtuelle Rekonstruktion: Mithilfe von digitalen Techniken können verlorene oder zerstörte Gebäude, archäologische Stätten oder Kunstwerke als Modelle virtuell rekonstruiert werden. Durch die Analyse vorhandener Informationen, historischer Aufzeichnungen und vorhandener Fragmente kann eine genaue virtuelle Rekonstruktion erstellt werden, die das Aussehen und die Struktur des ursprünglichen Objekts oder Ortes widerspiegelt. Man spricht dabei auch von der Erstellung eines digitalen Zwillings oder „digital Twin“.

Digitale Museen, Virtuelle Sammlungen und Archive: Digitale Plattformen ermöglichen es Institutionen, umfangreiche virtuelle Sammlungen und Archive aufzubauen, die verlorene Kulturgüter beinhalten. Durch das Sammeln von hochauflösenden 3D Modellen, Bildern, Videos und Informationen können diese digitalen Archive als umfassende Quellen für die Erforschung und das Studium des verlorenen Erbes dienen.

Virtuelle Ausstellungen: Mit Hilfe von digitalen Technologien können virtuelle Ausstellungen geschaffen werden, die verlorene Kulturgüter präsentieren und nahezu perfekte Simulationen zeigen. Durch die Nutzung von hochauflösenden Bildern, interaktiven Elementen und kulturellen Kontextinformationen können Besucher virtuell durch Ausstellungen gehen und verlorene Kunstwerke oder Artefakte erkunden.

Bildung und Forschung: Digitalisate verlorener Kulturgüter können in Bildungs- und Forschungsbereichen eingesetzt werden. Sie ermöglichen es Wissenschaftlern, Archäologen und Historikern, weiterhin wichtige Erkenntnisse über die Vergangenheit zu gewinnen und Studien durchzuführen, auch wenn die ursprünglichen Objekte nicht mehr vorhanden sind.

Digitale Reproduktionen werden das Original niemals vollständig ersetzen können. Aber sie können als eine wertvolle Alternative dienen, um verlorenes Kulturerbe zu dokumentieren, zu erforschen, zu präsentieren und den Zugang dazu zu ermöglichen, insbesondere wenn die physischen Objekte nicht mehr verfügbar sind

„Zu den Kernaufgabe der Museen gehört das Bewahren unseres kulturellen Erbes für zukünftige Generationen. Dieser Verantwortung wird man nicht allein durch Videokameras und Glasvitrinen gerecht, sondern sie muss sich auch auf die nachhaltige und umfassende Digitalisierung der Bestände erstrecken! Hier in Deutschland bedarf es dazu eines gesamtdeutschen digitalen Kulturpakts, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass Diebstahl und Verlust allmählich zu kulturellem Alzheimer führen!“, fasst Dr. Andreas Christoph seine Einschätzung noch einmal zusammen.

Die Vorteile von Digitalisierung im Falle von Verlust

Unsichere Datenlage in deutschen Museen:

  • Nur eine umfassende Katalogisierung, Inventarisierung und digitale Dokumentation stellt sicher, dass Verlust oder Beschädigung von Kulturgütern immer und überall bemerkt werden. Museen, Depots und Archive brauchen moderne digitale Sammlungsmanagement-tools, um die Sammlung auch verwalten zu können. Nur wer immerzu weiß, welches Objekt, wann, wo, vom wem und zu welchem Zwecke aufbewahrt wird, kann Schwund ausschließen.

Schnellere Aufklärung im Falle eines Verbrechens:

  • Die Fahndung nach Raubgut würde mit Hilfe von 3D-Bildmaterial schneller und effektiver erfolgen können. Selbst Teilstücke des gestohlenen Exponats würden sich leichter identifizieren lassen, sollten sie auf dem Schwarzmarkt angeboten werden.
  • Durch bessere Fahndungs- bzw. Aufklärungschancen würde ein höherer Abschreckungseffekt eintreten.
  • Beschädigtes Raubgut könnte dadurch besser repliziert werden.

Schutz vor Verlust und Erhalt für die Nachwelt:

  • Nicht wiederzubeschaffende Kunstgegenstände oder Artefakte könnten zumindest in Form von hochauflösenden und leistungsfähigen Digitalisaten der Wissenschaft nachhaltig erhalten bleiben.
  • Als digitale Exponate könnten sie nicht nur untersucht und verglichen, sondern auch weiterhin ausgestellt und so vor dem Vergessen gerettet werden.

Wenn Sie sich für das Thema Digitalisierung von Kulturerbe interessieren, lesen Sie bitte hier weiter. Sollten Sie ein eigenes Digitalisierungsprojekt planen, freuen wir uns, wenn Sie mit uns in Kontakt treten. Sehr gerne teilen wir unsere Erfahrungen und beraten Sie schon ganz zu Beginn ihrer Planungen.

 

Hauptbild: British Museum
Credit:  Foto  Aurélien Barre / Pixabay

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