Wir werden in der Zukunft in der Lage sein, die Vergangenheit kollektiv zu betrachten.

Wir werden in der Zukunft in der Lage sein, die Vergangenheit kollektiv zu betrachten.

The New York Times Bestseller: Veröffentlichungen von Jerry Saltz

Ein Interview mit Jerry Saltz zu der Frage, wie sich unsere Wahrnehmung von Kunst und Kultur durch die Digitalisierung und durch Soziale Medien verändert

Jerry Saltz, geboren 1951 in Oak Park, einem Vorort von Chicago, Illinois, in den Vereinigten Staaten, ist einer der weltweit führenden Kunstkritiker. Er ist bekannt für seine scharfen Einsichten, seine unverblümten Meinungen und seine unbändige Leidenschaft für die Kunst. Seit 2006 ist er der leitende Kunstkritiker und Kolumnist des New York Magazine. Im Jahr 2018 wurde er mit dem Pulitzer-Preis für Kritik ausgezeichnet, „für ein robustes Werk, das eine scharfsinnige und oft gewagte Perspektive auf die visuelle Kunst in Amerika vermittelt, die das Persönliche, das Politische, das Reine und das Profane umfasst.“ Er lebt und arbeitet in New York City mit seiner Frau, der Co-Chef-Kunstkritikerin der New York Times, Roberta Smith. Sein letztes Buch „Art is Life“ wurde 2022 veröffentlicht.

Interview von Nikolina Strobel

Wie verändern die sozialen Medien Ihrer Meinung nach die Art und Weise, wie wir Kunst und Kultur betrachten, konsumieren, interpretieren und teilen? Haben sie zu einer Öffnung beigetragen?

Ich glaube, dass die sozialen Medien ein echter Gamechanger sind. Ich habe angefangen soziale Medien zu nutzen, weil die gängige Struktur in der Welt der Kunstkritik nicht gut für mich ist. Sie ist eine Pyramide, die von oben nach unten funktioniert, wo der Eine zu den Vielen spricht. Als ich Mitte der 2000er Jahre, es muss 2005 oder 2006 gewesen sein, anfing, auf Facebook zu posten, wurde mir sofort klar, dass dies ein Weg war, diese Pyramide umzukehren und dieses tyrannische, erdrückende und schreckliche Modell der autoritären Kritik zu durchbrechen. Anstatt dass einer zu vielen spricht, habe ich in den sozialen Medien einen Weg gefunden, viele zueinander sprechen zu lassen.

Weil Sie ihnen (ihren Followern) Fragen stellen…

Ja, indem ich Fragen stelle. Ich muss sagen, Social Media war einer der größte Lehrer in meinem ganzen Leben. Ich war früher auf den Top-100-Listen und ein Magazin hat irgendwann gesagt: Wenn Jerry Saltz versucht, unsere Kritik in den sozialen Medien zu üben, wird er nie wieder auf einer dieser Listen stehen. Und ich dachte: Natürlich werde ich weiter in den sozialen Medien posten, natürlich werde ich weitermachen, ich habe keine andere Wahl als weiterzumachen. Und seitdem bin ich nie wieder auf einer Liste gewesen. Das ist in Ordnung. Das ist absolut in Ordnung. Ich liebe die Listen, ich will unbedingt auf ihnen stehen, aber wenn man einmal drauf ist, macht man sich Sorgen, ob man drauf bleibt – und wenn man nicht mehr drauf ist, kann man einfach alle anderen hassen, die drauf sind, und da bin ich, wie alle anderen auch. Also ja – ich würde sagen, dass die sozialen Medien einen demokratisierenden Wandel herbeiführen.

Viele Museen, Galerien und Sammlungen bringen ihre Bestände in den digitalen Raum, mit modernster Software, Medieninstallationen usw. Was denken Sie über den Einsatz dieser technologischen Entwicklungen wie z. B. Virtual Reality / Augmented Reality in Ausstellungen oder in Museumsräumen? Glauben Sie, dass die Digitalisierung die Zugänglichkeit von Kunst verbessert hat, und wenn ja, inwieweit hat sie die Kunstszene und die öffentliche Wahrnehmung von Kunst verändert?

Das ist unvermeidlich. Das Publikum ist jetzt schnell. Die Kunstwelt hat gesagt, sie wolle ein großes Publikum, und die Kunstwelt hat jetzt ein enormes Publikum. Ich verabscheue das. Aber ich verstehe es absolut. Ich hoffe, dass man beides voneinander trennen kann, wie den Film und den interaktiven Teil, aber ich kann es nicht aufhalten, und wenn Sie mir eine Mona Lisa in einem Schrank zeigen und mir eine Taschenlampe geben, würde ich sie mir ansehen. Stellen Sie einfach die Kunst auf und ich werde kommen. Der Rest ist mir egal.

Während Kunstwerke in Museen normalerweise nicht berührt werden dürfen, es sei denn, es handelt sich um partizipatorische Kunstobjekte oder Performance-Kunst, die das Publikum mit einbezieht (z. B. „The Artist is Present“ von Marina Abramovic), können Repliken wie die des „Mädchens mit dem Perlenohrring“ von Jan Vermeer im Rijksmuseum in Amsterdam berührt werden. Diese Innovation verdanken wir der zunehmenden Nutzung der 3D-Digitalisierung in der Kunstwelt. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Das klingt aufregend! Ich würde gerne selbst einmal einen Jackson Pollock oder eine Höhlenmalerei betreten, ich würde mich freuen, wenn jemand eine riesige Nachbildung dieser Kunstwerke bauen würde. Oder die Pyramiden.

Welche Auswirkungen könnte die weitere Digitalisierung des kulturellen Erbes auf die Art und Weise haben, wie wir Geschichte und Tradition in der Kunst verstehen und bewahren?

Eine enorme Auswirkung. Ich glaube, dass alle Ihre Fragen auf eine Zukunft hindeuten, die wir alle besuchen können. In dem Sinne, dass die Zukunft in der Lage sein wird, die Vergangenheit kollektiv zu betrachten. Wenn es also möglich wäre, würde ich mich freuen, wenn jeder die Kunstgeschichte auf millionenfache Weise erforschen und zudem verstehen könnte.

Wie stellen Sie sich das Museum der Zukunft vor?

Ich werde nicht für die Zukunft sprechen, weil ich nicht mehr hier sein werde, aber ich werde für die Gegenwart sprechen und sagen: Konzentriert euch auf die Sammlungen. Konzentriert euch auf das, was ihr habt. Baut keine riesigen, glitzernden, glamourösen architektonischen Orte. Konzentriert euch auf die Sammlungen. Die meisten dieser Museen müssen auf ewig beheizt und gekühlt werden, und viele von ihnen werden an Orten gebaut, die in 75 Jahren nicht mehr existieren werden.

Fallen Ihnen positive Beispiele ein?

Ein gutes Beispiel ist die Art und Weise, wie das Whitney in New York wiederaufgebaut wurde: Man hat keine riesigen Gebäude errichtet, sondern ein neues Viertel in der Innenstadt in Angriff genommen, und es läuft hervorragend. Aber warum müssen die Museen so groß werden, möchte ich die Kunstwelt fragen? Warum muss das geschehen?

Welche Veränderung erhoffen Sie sich?

Das Problem ist: Nur ein Bruchteil der Kunst wird super-erfolgreich, aber wir schenken 99 Prozent unserer Aufmerksamkeit diesem winzigen, winzigen Prozentsatz. Und das würde ich gerne ändern.

Wie könnte das Ihrer Meinung nach geschehen?

Ich denke, Ausstellungen sollten online überall und ständig besprochen werden. Das bringt zwar kein Geld ein, aber ich verspreche Ihnen: Sie tragen zum Gefüge der Kunstwelt bei. Schätzt zuerst die Kunst. Die Kunst kommt zuerst – alles andere wird folgen.

Vielen Dank für die Unterhaltung.